Es beginnt im August 1911, wir treffen auf Ruven, den zweiten Sohn eines Stellmachers, der abseits vom Dorf steht und horcht, Takte zählt, zur Natur dirigiert. Er hat eine besondere Gabe, die von dem durchziehenden Spielmann Joseph erkannt wird: die Musik. Ruven kann Töne sehen, sie haben Farben für ihn, überall sieht er Melodien und Rhythmen. Joseph schenkt ihm seine Geige, nachdem der Vater ihn verprügelt hat. Weil der Sohn nicht stirbt, erlaubt er ihm das Musizieren. Zunächst erhält er Unterricht im Dorf, als das nicht mehr ausreicht, geht es für ihn immer weiter fort, immer der Musik nach, die sein ganzes Leben bestimmen wird.
Bis ins Jahr 1975 reicht Svenja Leibers Roman, umspannt damit 64 Jahre. Wir begleiten Ruven und seine Familie, beginnen in einem kleinen Dorf im Norden, in dem das Leben einfach und bäuerlich geprägt ist. Ruven fällt mit seinem Talent aus dem Rahmen. Man beäugt ihn kritisch. Aberglaube herrscht oft noch vor. Er ist nicht gemacht für handwerkliche Arbeiten, seine Hände und sein Geist sind zu fein für grobe Arbeiten, seine Welt ist die Musik. Lange Wege nimmt er für sie in Kauf, übt stundenlang, zieht sich zurück in sich. Die Stellmacherei übernimmt sein älterer Bruder.
Der Erste Weltkrieg beginnt. Vater und Bruder melden sich freiwillig. Ruven geigt weiter. Viel passiert in der Welt. Die Monarchie in Deutschland wird zur Republik. Die Faschisten marschieren auf. Der Zweite Weltkrieg beginnt. Im Dorf sind diese Umwälzungen nur langsam spürbar. Man scheint weit weg, bis die Ersten mit ihren Ideologien kommen, die Dorfbewohner beobachten und einschüchtern. Verluste sind zu betrauern. Leben bedeutet nicht nur Musik, es bedeutet auch Veränderung, das lernt Ruven in jenen Tagen. Die Welt kann man nicht draußen lassen. Mittlerweile ist er Schüler eines Professors in der Stadt, hat einen reichen Mäzen, der ihm eine wertvolle Geige zur Verfügung stellt. Doch auf das Talent folgt nicht der erhoffte Erfolg. Der Krieg zieht ihn ein, er muss das Geigen aufgeben. Der Krieg tötet nicht nur Menschen, er stoppt Lebensläufe. Ruven kommt nach dem Krieg nicht mehr in die Musik hinein. Er kann zwar in einem Orchester spielen, die Liebe zur Musik ist ihm jedoch abhandengekommen. Er kann die Farben nicht mehr sehen. Musik ist für ihn mechanisch geworden.
Der Roman glänzt mit emotional abgeschlossenen Szenen. Man stürzt sich gierig auf sie. Svenja Leiber erzählt nicht nur, sie entwirft Bilder, sie entwirft die Zeit neu mit ihrer lebhaft drängenden Sprache, die bei mir in Sepia hängen bleibt. Die Figuren werden vom Kontext zusammengeschweißt. Ich wurde im Laufe des Romans immer gieriger nach ihrer Sprache. Sie erzählt vom Krieg neben dem Krieg, hebt die Lebensläufe hervor und durchzieht sie mit Tönen. Ihr Erzählton ist immer gewaltig und kommt auf den Punkt, nicht zu ausschweifend, damit noch Platz für den Leser bleibt.
„Das letzte Land“ ist ein Kriegsbuch, ein Familienroman und ein Bildungsroman, die Familie überdauert verändert. Es geht immer weiter. Aber gegen das Schicksal und die höhere Gewalt kommt die Musik sowie der Mensch manchmal nicht an.
Weiteres zum Buch bei Suhrkamp:
http://www.suhrkamp.de/buecher/das_letzte_land-svenja_leiber_42414.html