Es ging um Männer. Um 100 Männer und 100 Bücher, die die Leser vorschlagen durften. Gelesen wurde 24 Stunden lang im Funkhaus am Wallrafplatz.
Manche reisten am Freitag an und übernachteten mit Schlafsack und vollgepacktem Rucksack im Foyer des Funkhauses. Unbekannte fuhren zusammen, verabredeten sich übers Netz ganz spontan und teilten sich eine Fahrkarte. Das ist das Positive am Netz, man findet zusammen. Der WDR hielt für die Besucher und Übernachtungsgäste kostenlos Tee und Kaffee bereit. Im Netz wurde die Veranstaltung übertragen, ich sah eine Dame im Sessel liegen, noch zuhörend, und ich fragte mich, wie es ist, plötzlich unter wildfremden Menschen ganz schutzlos einzuschlafen, beobachtet von einer Kamera und eventuell von mir und vielen anderen.
Am Samstag fuhr ich selbst hin. Ich erwartete eine lange Schlange vor dem Funkhaus. Es gab sie nicht. Mühelos betrat ich die Veranstaltung, sah mich im Foyer um, suchte mir einen Platz und stand still, inmitten von vielen Menschen. Was ich dazu notierte, kommt hier:
Die Kebekus verhaspelt sich und spricht auf Kölsch weiter. Sie kann improvisieren und es ist gar nicht schlimm. Ein älterer Glatzkopf hält sich im Anzug am Rand, an den Seilen, auf glänzenden Füßen, die den Gang vom Matratzenlager trennen. Dann steigt er über das rote Seil, als ein Platz auf der grünen Wiese frei wird, und legt sich salopp zu einer jüngeren Frau, die neben sich geschälte Möhren in einer verschließbaren Plastiktüte gelegt hat. Die Sprecher wechseln, die Borsody erscheint auf dem Monitor, auch sie verhaspelt sich manchmal, streckt nach dem letzten Punkt die Zunge raus zum Zeichen, dass sie sich selbst nicht gefallen hat. Es riecht nach Vanille, nach offenen Schuhen. Heißer Tee wird balanciert, ein Telefon plärrt was im Rucksack, und es plärrt lange, weil der Rucksack vollgestopft ist und der Besitzer kniet sich hin. Das Mädchen neben mir lächelt, was für eine Schönheit gegen meinen einheitsgrauen Pullover. In der Pause Gesang mit Musik, das Telefon wird endlich gefunden, ich starre die Schönheit an, das Mädchen bemerkt erst jetzt ihre verkehrten Socken. Ohne Schuhe wird es gleich intim. Das mitgebrachte Kind beruhigt sich nach anfänglichem Gequengel. Damen stricken im Takt nebeneinander Streifen, das Kind legt sich zu mir auf die grüne Matratze neben graue Sportsocken und schließt die Augen. Liest jemand, wird es ruhig. Das ist es gewohnt. Da kommt die Wetterfee mit einem Text von einer Frau, gegen den Männerüberhang, die Autorin ist anwesend. Mein Blick schweift im Raum, Menschen stehen auf, neue kommen dazu. Ganz vorne liegt man bequem.
Junge Kameramenschen filmen uns regelmäßig und zeigen uns manchmal auf dem großen Monitor. Rucksäcke und Schuhberge und Flaschen liegen statisch zwischen uns. Die Plastikflaschen klingen nicht. Ich schaue wieder auf. Die Kleinert hat die Haare zusammengebunden. Auf dem Gang zu den Toiletten riecht es nach Würstchen, dort steht auch der Kuchen und der Kaffee mit Tee, den gibt es umsonst, genauso wie das Klo. Die Kleinert manövriert sich gut durch Zungenbrechernamen. Wer liest heute eigentlich noch vor? Nah sehen die bekannten Gesichter anders aus, älter, leider, das muss man sagen. In den Sendesaal schaffe ich es nicht. Davor ist es zu schön warm. Um hereinzukommen müsste ich alles abgeben, Block und Kamera, könnte nichts aufschreiben und nicht fotografieren. Das will ich nicht. Auf einem Stuhl sitzen auch nicht. Im Hellen ist es schöner. Durch die riesige Leinwand bin ich nah dran, näher als drinnen auf einem der letzten Plätze. Draußen schläft mir der Fuß ein. Ich finde endlich die Ruhe im Wochenende. Es scheinen mehr Frauen als Männer anwesend. Frauen lesen auch Männertexte, ist ja egal, Hauptsache es gibt Bücher, Hauptsache es wird gelesen. Von Frauen und Männern. Über Frauen und Männer. Darum geht es immer in den Büchern. Die alten Themen überaltern nicht, Altes bleibt wie es ist. Die Nachrichten gehen über den Sender, der Moderator überbrückt sie und interviewt die Illustratorin am Rand, die während der Lesung zeichnet. Vera Langer, sie zeichnet was zum Text, hat es natürlich zu Hause vorbereitet, so schnell geht es nun auch nicht. Die fertigen Werke sind im Foyer gegenüber vom Kaffee zu sehen. Für alle. Die penetranten Würstchen kommen bis zu mir mit zwei Scheiben Brot, wenigstens sind Körner drin. Ich rümpfe die Nase. Der Moderator gibt weiter, wo sich der Verkehr auf Autobahnen staut, er hört es über seine Verkabelung. Er verspricht sich, kündigt die nächste Leserunde an, sagt Düsseldorf anstatt Köln, das bringt Lacher, entspannt ist es sowieso. Aufgeheitert. Mal ohne Druck, ohne Werbung, mit Gleichgesinnten. Das Wort Literaturwoodstock fällt. Eine Moderatorin übernimmt, ich kenne ihre Stimme. Sie bringt Nachname und Wohnort eines Hörers durcheinander, der für das nächste ausgewählte Buch verantwortlich ist. Macht nichts. Hauptsache Chandler. Marlowe ist dran. Neu Hereinkommende hinterlassen kleine Pfützen auf dem Parkett neben unserem Hörerlager. Es scheint zu regnen in der Stadt, so wie es angekündigt war. Kopfkissen werden aufgeschüttelt. Wo ist die Wetterfrau? Ich beobachte laufend das Foyer, in dessen Mitte ich sitze. Wer wird wohl seit gestern hier campen? Vorne geht es weiter. Alexander Radzun in Lila. Manchmal im Krimi. Ich sitze eng mit vielen Menschen. Ich kenne sie nicht. An diesem Nachmittag wirken sie nicht aufdringlich. Ich fühle mich aufgehoben zwischen ihnen, ja, ich spüre ihre Masse nicht. Das eigene Kind hat sich an mich gelehnt. Parfums mischen sich mit Texten. Die Würstchen liegen schon in umliegenden Mägen. Der Senf bleibt wie so oft übrig. Die Borsody doktert wieder am Text, liest von dem Reh Gibraltar. Ich kann mir nicht helfen, sie wirkt, als hätte sie gestern Abend zu viel getrunken. Drei am Pult nebeneinander, die halten still. Sie stolpert häufiger. Ich tippe auf Wein. Geklatscht wird bei uns verhalten. Applaus passiert im Sendesaal. Das Kind wird wach. Es hat fest geschlafen. Mit einer neuen Pause kommt die Unruhe. Menschen wechseln. Mein Bein ist eingeschlafen. Damit es ich weiter aushalte, das Halten des Kindes und mein eigenes, stopfe ich mir weißebohnengroße Stücke Brot in den Mund, die Papiertüte raschelt aufdringlich. Die Mithörer schauen. Ich weiß, es stört. Das Kind muss mal alleine sitzen. Ich muss mich bewegen. Zuhören kann man lange, 100 Bücher, das ist viel, in 24 Stunden, deshalb nennt sich die Veranstaltung Marathon. Alles schaffe ich nicht. Ein bisschen ist besser als nichts. Dabeisein ist besser als zuschauen. Ich bin dabei, zuhause kann ich die Veranstaltung weiter verfolgen, im Radio oder im Netz, wenn ich das bewegte Bild haben möchte. Dafür zahlen wir Gebühren.