Oda erzählt aus ihrem Leben.
Sie ist fünf Jahre alt und im Garten ihrer Großmutter unterwegs, als wir auf sie treffen, von da ab mit ihr gehen. Die nächste Station ist ihre Pubertät. Sie rebelliert, trägt schwarz auf einer Hochzeit und ist letztendlich passend angezogen. Sie beobachtet ihre Familie, fühlt sich fremd und fern und hegt manchmal den Wunsch unsichtbar zu sein, nicht teilnehmen zu müssen, nicht entscheiden zu müssen. Unsichtbar wird man in Ruhe gelassen, wird fast neutral.
Und dann ist Oda schon Vierzig. Sie hat einen Partner und einen fünfjährigen Sohn. Sie wünscht sich ein weiteres Kind.
Wo befindet sich die eigene Position in diesem Leben, wie gehen wir mit uns selbst um, ja, wie fühlen wir uns im Detail? Über diese Frage huschen viele, Oda bleibt kurz stehen und fragt, überlegt. Das was sie will ist nicht immer das, was die anderen wollen. Sie will noch ein Kind, ihr Freund aber nicht. Führt dieser Konflikt zu einer Lösung, übersteht er die Partnerschaft? Und wird sie ihm das jemals verzeihen können?
Sie ist durcheinander, benimmt sich daneben, wirkt irrational und versteht sich dabei selbst nicht. Sie schaut sich zu und findet sich selbst oft unmöglich, erkennt, dass sie das Verhalten ihres Vaters oder einer alten Lehrerin kopiert, aber gar nicht so sein will.
Vieles liegt im Dunkeln. Die Lügen und Heimlichkeiten, die im Laufe des Lebens angesammelt werden, weil man nicht durchgehend ein ehrliches Leben führt. Kompromisse eingeht. Sich ablenkt und auf der Suche nach Antworten und Lösungen ist. Manchmal verliert man sich. Findet wieder zurück. Kann aus Abstand wieder Nähe machen. Dann wird es hell. Dunkel fühlt sich Oda auch oft in der Familie. Familie bedeutet nicht, dass sich alle Personen gut kennen. Sich einig sind. Im Gegenteil. Die familiäre Nähe ist eine erzwungene, in der man Abstand nimmt. Vieles wird nicht ausgesprochen und wenn doch, ist es eine Konfrontation, so viele Dinge sollen im Dunkeln bleiben, dort liegen sie ruhiger, stören niemanden. Durch das Aussprechen werden sie in die Helligkeit gezerrt, beleuchtet, wahrgenommen.
Schließlich ist Oda über Achtzig. Sie wohnt immer noch in ihrem Haus, hat Enkel. Es ist die letzte Station in diesem Buch, die eindringlichste und stärkste. Wurde uns Oda oft unverständlich in ihren Vierzigern, glättet sie diese Zeit im Nachhinein durch ihre Reife. Wir sind nur Menschen, mit Fehlern und Lügen. Und wie hört man auf? Wie fällt der Rückblick aus? Was war und ist das für ein Leben, das man nur einmal lebt?
Julia Jessen erzählt langsam. Ihre kurzen Sätze werden nicht zu einem Stakkato, sondern sie lassen uns kurz absetzen, Punkt, einatmen, weiterlesen, ein neuer Satz beginnt, der eigentlich zum Vorherigen gehört, unerhört getrennt und doch eins. Wir setzen zusammen. Ihre Sprache ist so eigenwillig wie die Person Oda. Beides verschmilzt zu einer kompakten, grandiosen Gesamtheit.
Sie kippt Odas Leben über uns, mit allen Freuden und dem Leid. Als Mensch und Leser musste ich heulen. Oda war mir nach den vielen Seiten so vertraut, das Leben so nah, zerbrechlich und endlich, und sie lässt mich in Aufruhr zurück und was mir bleibt, ist die Aussicht, dass es bestimmt hell wird.
Hier geht es zum Buch: http://www.kunstmann.de/titel-0-0/alles_wird_hell-1044/