Jahreswechsel

„Jede unserer modernen Gesellschaften, die auf Kolonisierung, Unterdrückung und Ausbeutung begründet seien, müsse, um sich ihr lebenswichtiges Selbstbewußtsein zu erhalten, bestimmte Teile ihrer Geschichte ausblenden und sich möglichst viele Teile ihrer Gegenwart schön lügen. Aber eines Tages bricht alles zusammen, wenn man sich der Realität nicht stellt, sagte ich. Nun ja, sagte Peter Gutman. Früher oder später.“
Christa Wolf, Stadt der Engel, Suhrkamp Verlag Berlin 2010, S.108

Lese ich diese Passage, denke ich an jetzt. Jahreswechsel, von einer Sekunde auf die andere stellen wir um, nehmen uns Dinge vor für das neue Jahr, wollen vieles anders machen, resümieren zwischendurch, erlauben uns einen kurzen Blick zurück. Stoßen an. Auch die Politik zieht Bilanz, schaut auf die Wirtschaft, schaut auf das Land, versüßt uns den Jahresanfang mit Durchhalteparolen. Die Kanzlerin schwört uns in ihrer Neujahrsansprache ein. Schwierig wird es werden. Nicht aufgeben sollen wir. Sie betont die gute Lage am Arbeitsmarkt, um irgendetwas Positives sagen zu können, schließlich wackelt alles um uns herum oder bricht weg oder ein, dabei berichtete SPIEGEL ONLINE zwei Tage zuvor, wie kreativ die Bundesregierung mit Arbeitslosenzahlen umgeht, die Zahlen stimmen nicht, sie müssen nur gut aussehen, das ist ihr Sinn, sie müssen nicht die Wirklichkeit wiedergeben, wer will schon so etwas Schreckliches wie die Wirklichkeit wahrhaben? Die Politik nicht. Auch nicht beim Euro. Nicht jetzt. Weder früher noch später.