Mythos Winterdepression

Foto: Vera Pestel

Foto: Vera Pestel

Im Oktober wurde die Zeit umgestellt. Wir befinden uns nun in der sogenannten Winterzeit, die eigentlich unsere richtige Zeit ist, die Zeit unseres Körpers. Unsere innere Uhr stimmt endlich wieder überein mit der gelebten Zeit. Das wurde auch Zeit! Ich vertrage diese unsinnigen Umstellungen nicht. Jetzt im Winter wache ich morgens ausgeschlafener und frischer auf. Gerade als ich mich darüber freue, werde ich gedämpft durch die Ankündigung der Winterdepression, die besagt, dass ich mich schlecht fühlen soll. Sie treibt wieder ihr Unwesen. Manche hängen sie so hoch auf, dass ich sauer werde.

Neigen wir in der dunklen Jahreszeit zur Depression bis hin zum Selbstmord, wie eine Kolumnistin in der SZ fragt, Vitamin D als Medikation empfiehlt, und sogleich Häme erntet, weil das Klischee doch zu dick ist, Winter, Depression, sich hängen lassen, jammern, es ist immer trübe. Eine Korrektur kommt in einem Kommentar: Die Selbstmordrate ist im späten Frühling bis zum Sommerbeginn am höchsten. Ich überprüfe es. Es stimmt. Sie hat sich geirrt. Sie beschreibt den Winter als graue Glocke, die sich von November bis April über uns legt und nur mit Alkohol zu ertragen ist. So schlimm ist es nun wirklich nicht. Es gibt auch helle Tage im Winter. Die Zeit muss nur anders eingeteilt werden. Morgens im Dunkeln raus, abends im Dunkeln nach Hause, aber es gibt das Wochenende, dann nix wie raus, Helligkeit tanken, sich draußen bewegen, das macht den von der Woche zugedröhnten Kopf gleich wieder frei. Es gibt nun mal solche und solche Zeiten, was sollen wir machen?

Nachmittags um fünf sieht es später aus, als es ist. Das ist einfach so. Diese Tatsache muss uns aber nicht von allem abhalten, was wir gerne tun. Es gibt viele positive Seiten, wir müssen nur den Mut haben, sie zu sehen.
Joggen im Winter ist befreiend, die Laufpfade sind endlich nicht überfüllt, man friert nicht wie die Spaziergänger, die ihr Gesicht in den Wollschal versenken. Ganz ehrlich, eine Laufrunde im Schnee ist mir im Gedächtnis geblieben, die verklebten gehechelten Runden mit schwerer Luft im Sommer habe ich schnell verworfen, sie waren anstrengender als die im Winter. Ich lief bei minus fünf Grad auf hartem Boden, genoss meinen warmen laufenden Körper und hatte fast Mitleid mit den Hundehaltern, die fröstelnd hinter den Tieren hergingen. Dann fing es unerwartet an zu schneien. Der Wald wirkte gleich heller. Die Wege belegten sich weiß. Ich fing die Flocken während des Fallens auf und drehte eine Extrarunde, jauchzend und eingehüllt in meine eigene Wärme.

Wir dürfen nicht so ausschließlich denken, nicht denken, dass viele Dinge nicht in den Winter passen. Wir müssen nur unser Denken anpassen, Gewohnheiten umgewöhnen. Dadurch erschließen sich ganz neue Erfahrungen. Und fürs Fahrrad gibt es Spikes, wenn nötig. Der Winter sei langweilig, habe ich manchmal gehört.
Langeweile ist kein Grund zur Panik! Was bedeutet Langeweile eigentlich?
Mal langweilen, mal nichts tun und dabei Ruhe bewahren, mal nicht am Rad drehen müssen, mal die Raufaser anglotzen und nur atmen. Was ist schon dabei. Warum versetzt das viele in Panik? Produktiv sein, etwas voran bringen, Ergebnisse zeigen, das bestimmt unser Leben, das misst unser Leben. Durchatmen ist nicht mehr wichtig, da unproduktiv. Glaubt man. Lässt man sich einreden. Wer schafft es noch, Stille zu genießen, einer Kuh beim Grasen zuzuschauen oder für die Städter: Dem Landei zuschauen, wie es umständlich versucht einzuparken, mindestens zehn Mal vor und zurück setzt, und genüsslich darauf warten, bis es touchiert. Wetten darauf abschließen. Das Kissen am Fenster darf nicht vergessen werden, wie früher bei den alten Leuten, die sich beim Gucken etwas heraus lehnten.
Das klingt nicht nach Langeweile.

Der Winter hat nun mal eine andere Gewichtung, das müssen wir doch längst gelernt haben. Viele freuen sich auf Weihnachten, auf Gebäck mit Gewürz und die Geschenke und die wochenlange Beschäftigung mit ihnen, dem Einkauf, dem Kaffee nach dem Einkaufsbummel. Es wird herzzerreißend über den Stress vor dem Fest referiert. Ich befürchte, manche kommen ohne den Weihnachtsstress nicht aus, lieben ihn, haben ihn fest eingeplant. Das Jammern gehört zum Wohlfühlen. Die Rennerei erspart mehrmals das Fitnessstudio. Auf weiße Weihnachten hoffen viele. Das gibt es ohne Winter nicht.

Jede Zeit hat ihre Vorlieben. Schwimmen geht man besser im Sommer. Eis esse ich lieber, wenn es warm ist. Dafür läuft im Winter vieles ruhiger. Das ist auch nicht verkehrt. Endlich langsamer treten. Alleine schon, weil man morgens im Dunkeln nicht mehr so viel sieht und der Bürgersteig vielleicht glatt ist. Viel langsamer. Endlich Zeit für das neueste sechshundert Seiten Werk des Schriftstellers Kirchhoff, der es zum Teil am Gardasee geschrieben hat, in der Sonne und im Sommer. Alleine schon das Buch in der Hand zu halten, das elfenbeinfarbene Papier zu fühlen, darüber zu streichen, bringt ein Lächeln hervor. Es liegt schwer in der Hand und ich weiß, ich habe Zeit es zu lesen. Im Sommer würden wir vielleicht nur wieder hektisch auf die Uhr schauen und merken, dass wir zu spät zum Grillen zu Bekannten kommen und ganz vergessen haben, die vegetarischen Würstchen für die Freundin zu besorgen. Im Winter dürfen wir uns endlich ausstrecken, faul sein, dem Vergessen frönen. Der Sommer hetzt uns herum, das schöne Wetter muss ja immer ausgenutzt werden. Die lockere Kleidung zeigt jedes Pölsterchen, das wir nicht mehr loswerden. Unter einem dicken Pullover fällt es nicht mehr auf. Wir müssen mehr erahnen, das bringt neue Reize, beflügelt unsere Fantasie, die im Sommer nicht gebraucht wurde, da sie alles unverhüllt präsentiert bekam.

Im Winter werde ich langsamer wach, gleite aus dunklen Träumen in einen dunklen Raum, erlebe den Sonnenaufgang, der im Sommer zu der Zeit schon längst passiert ist. Der Sinn für Details erwacht. Wir sind in der Ruhephase angekommen. Wir sollten mit der Natur ruhen, uns an ihrem Rhythmus orientieren. Lange abends im Bett lesen. Schlafen und ausschlafen. Die Natur schläft und erholt sich, also tun wir es auch, bis es wieder Frühling wird und die Ruhephase ein Ende hat.
Licht aus. Auch virtuell.
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Gute Nacht!

Zum Nachlesen:
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/blogs/nummereins/2999/nummer-eins-der-woche-der-beginn-der-winterdepression